Arbeiten und dabei gesund bleiben – das ist nicht selbstverständlich in einer Zeit, in der sich Aufgaben verdichten, Anforderungen steigen und die Kommunikation über viele Kanäle gleichzeitig läuft, manchmal sogar bis in den Feierabend. Wie solche Bedingungen die Psyche beeinflussen, damit beschäftigt sich Thomas Rigotti. Der 45-Jährige ist Professor für Arbeits-, Organisations- und Wirtschaftspsychologie an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz und leitet eine Arbeitsgruppe am Leibniz-Institut für Resilienzforschung. Mentale Gesundheit in der Arbeitswelt ist sein Spezialgebiet.
Herr Rigotti, der Begriff Resilienz wird zunehmend zum Mode-Wort. Was bedeutet er aus Sicht der Forschung?
Prof. Thomas Rigotti: Es gibt wie bei vielen Begriffen und Konstrukten mehrere Definitionen. Man kann es so auf einen Nenner bringen, dass Resilienz die Fähigkeit zur Aufrechterhaltung oder Wiederherstellung psychischer Gesundheit ist – trotz des Vorhandenseins von Risikofaktoren oder von stressvollen Lebensereignissen. Es gibt Ereignisse oder andauernde Belastungen im Leben, die das Risiko erhöhen, Stress zu erleben. Aus chronischem Stress entwickeln sich dann unter Umständen psychische Erkrankungen. Die Frage der Resilienz ist: Wem gelingt es besser, auf diese Herausforderungen resilient zu reagieren – also entweder gar nicht krank zu werden oder sich schnell wieder zu erholen?
Ist das eine Frage der Veranlagung oder kann man das üben?
Rigotti: Man kann das auch üben. In den Anfängen der Resilienzforschung hat man eher auf stabile Persönlichkeitsmerkmale geachtet. Trotzdem hat man in ganz frühen Studien, die zu Waisenkindern auf einer Südsee-Insel durchgeführt wurden, herausgefunden, dass zum Beispiel der soziale Kontext eine ganz wichtige Rolle spielt. Die Waisenkinder wurden über viele Jahre begleitet. Diejenigen von ihnen, die immer noch Bezugspersonen wie die Großeltern oder andere Menschen hatten, hatten später bessere berufliche Karrieren, bessere Ausbildungswege oder weniger Probleme im Leben. Es ist letztendlich eine Mischung aus Dingen, die man mitbringt, aus Dingen, die man in seiner Biographie erlernt hat, und Dingen, die man trainieren kann.
Welche Faktoren im Berufsalltag belasten die mentale Gesundheit?
Rigotti: Zunächst entscheidend für das Vorhandensein von Belastungen sind die Faktoren Zeit und Leistungsdruck oder Konkurrenzdruck, ständige Unterbrechungen, zunehmende Schwierigkeiten, Arbeit und Freizeit zu trennen, vor allem das Stichwort ständige Erreichbarkeit, aber natürlich auch soziale Faktoren wie das Arbeitsklima mit den Kolleginnen und Kollegen, im Extremfall Mobbing, oder auch Führungskräfte, die unsensibel agieren, autoritär führen oder wenig Feedback geben. Es geht dabei sowohl um den quantitativen Aspekt – zu viel Arbeit in zu kurzer Zeit und immer mehr – als auch um soziale Aspekte. Das sind die Hauptkriterien, die sich dann – wenn es nicht ständig zu einem Ausgleich durch Erholung kommt – kumulieren und zu chronischem Stress führen. Und daraus entwickeln sich unter Umständen Krankheiten: psychische und psychosomatische Störungen, Herz-Kreislauf-Erkrankungen oder Rückenschmerzen.
Wenn man gerade auf Job-Suche ist: Wie erkennt man eine Stelle, in der man mit hoher Wahrscheinlichkeit gesund bleiben kann?
Rigotti: Es ist immer eine Passung zwischen den Aufgaben und Anforderungen auf der einen und den eigenen Kompetenzen und Qualifikationen auf der anderen Seite – aber auch zwischen der Unternehmenskultur und den eigenen Werteinstellungen. Da muss man überlegen: Will ich für ein Atomkraftwerk oder ein Unternehmen, das Pestizide herstellt, arbeiten? Wenn das meiner Weltanschauung oder politischen Einstellung widerspricht, werde ich dort wahrscheinlich nicht glücklich werden. Und bei der Passung zwischen Qualifikationen und Anforderungen sollte sich jeder Bewerber fragen: Was kann ich gut und passt das zu den Aufgaben?
Das Leibniz-Institut für Resilienzforschung, für das Sie arbeiten, will Lebens- und Arbeitsumfelder durch seine Erkenntnisse verändern. Wo stehen wir momentan in der Arbeitswelt und was müsste sich verbessern?
Rigotti: Der Transfer von Forschung in die Praxis hat immer eine gewisse Zeitverschiebung. In der Management-Praxis werden immer wieder Säue durchs Dorf getrieben – manchmal sind das Dinge, die zehn Jahre vorher in der Forschung aktuell waren. Es ist gar nicht so einfach, den direkten Draht zum evidenzbasierten Handeln in der Praxis herzustellen. Ein Weg ist, dass wir versuchen, unsere Studierenden in diese Richtung auszubilden. Dennoch ist im Bereich Gesundheitsmanagement in der Arbeitswelt in den letzten Jahren einiges passiert. Das Thema psychische Erkrankungen hat ja in Relation zu anderen Krankheitsursachen für Arbeitsunfähigkeit und Frühverrentung stark zugenommen. Es gab gesetzliche Veränderungen: Im Arbeitsschutzgesetz wurden Aspekte für psychische Belastungen 2013 noch einmal genauer gefasst. Das neue Präventionsgesetz legt fest, dass Krankenkassen und Versicherungsträger Geld für evidenzbasierte Prävention in die Hand nehmen müssen. In vielen Unternehmen ist durchaus das Verständnis da, dass man etwas tun muss, um die Belegschaft gesund zu halten. Nach wie vor ist dabei aber das Verhalten des Einzelnen im Fokus. Es ist auch gar nicht verkehrt, Kurse zu Stressmanagement, Resilienz oder Sport anzubieten. Aber wo man häufig Hemmschuhe hat, ist zu hinterfragen, woher der Stress eigentlich kommt. Wie arbeiten wir zusammen? Wie kommunizieren wir? Was ist unser Führungsleitbild? Warum erleben die Leute überhaupt Zeitdruck und was kann man daran ändern? Da gibt es sicherlich noch Nachbesserungsbedarf bei der Bereitschaft, Dinge zu hinterfragen und an den Prozessen zu arbeiten.
Resilienzforschung
Das Leibniz-Institut für Resilienzforschung (LIR) ist ein unabhängiges Forschungsinstitut. Es wurde 2014 als wissenschaftliche Einrichtung der Johannes Gutenberg-Universität Mainz gegründet und ist seit 2020 Teil der Leibniz-Gemeinschaft, die 96 unabhängige Forschungseinrichtungen in Deutschland verbindet. Im Leibniz-Institut für Resilienzforschung beschäftigen sich zehn Arbeitsgruppen damit, wie Menschen nach stressvollen Lebensereignissen ihre psychische Gesundheit beibehalten oder wiederherstellen können. Das LIR ist laut eigenen Angaben das erste derartige Forschungszentrum in Europa. Es will mit seinem Wirken eine Lücke schließen und dazu beitragen, dass Lebens- und Arbeitsumfelder sich positiv verändern – so auch jetzt in der Corona-Krise. Unter www.lir-mainz.de/news findet man Tipps, wie man während der Pandemie die eigene mentale Gesundheit stärken kann.
Dies ist ein Auszug des Interviews, das im Mai 2020 im Magazin WILA Arbeitsmarkt erschienen ist.
Foto: Symbolbild von Wokandapix auf Pixabay